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Warten
Zwischen St.Gallen HB und Winkeln sind Gleisarbeiten im Gang. Nichts Ungewöhnliches, allenfalls ein Grund für Zugsausfälle oder Verspätungen – für den St.Galler Autor Jürg Rechsteiner aber waren sie der Auslöser für die nachstehende Kurzgeschichte.

PM 1000 URM
Ich stehe auf dem Perron und warte auf die S-Bahn, die mich ins Stadtzentrum zur Arbeit bringen soll. Vor meinen Augen arbeitet die PM1000-URM, sie füllt meinen Kopf mit Lärm, meine Fusssohlen spüren die Erschütterungen, ich atme dieselgesättigte Luft. Die PM1000-URM, URM wie Urmel, flutet meine Sinne von Kopf bis Fuss. Das gelbschwarze Maschinenungetüm hebt die Gleise an, bis sie durchgebogen wie Modelleisenbahnschienen den Schotter freigeben. Das Urmel krallt sich den rostfarbenen Schotter, auf Fliessbändern transportiert es das Gestein und rüttelt und schüttelt den Schotter über vier Wagenlängen frei von Erde und zerbröckeltem Kleingestein bis zur Waschanlage. Das Abwasser wird gesammelt und später entsorgt, der gewaschene Schotter wird viele Meter weiter hinten wieder ins Gleisbett eingetragen. Das stelle ich mir mehr so vor, als dass ich es sehe. Zentimeter um Zentimeter, die Bewegung für das Auge kaum sichtbar, schiebt sich das Urmel Richtung Westen. Die Gleisarbeiter in ihren orangen Arbeitskleidern betreuen Urmel und sorgen dafür, dass es möglichst pausenlos Schotter frisst und diesen gereinigt wieder ausspuckt. Sie klopfen mal hier, mal dort auf den gelben Stahl, sie bedienen Schaltelemente, sie kontrollieren Schläuche und Leitungen, sie schauen, dass es dem lauten Urmel gut geht. Mit heftigem Alarm und orangem Blinken kündigt Urmel die Einfahrt meiner S-Bahn an. Die Arbeiter treten zur Seite, Urmel bewegt sich ungerührt zentimeterweise weiter. Während ich in den hellen und ruhigen S-Bahnwagen einsteige, warten die Gleisarbeiter im Sicherheitsabstand auf die Abfahrt. Im Vorbeifahren lese ich den Schriftzug «Recycling Schotterwaschanlage». Am Strassenrand wartet ein Sofa auf die Sperrgutabfuhr. Auch Dinge warten, denke ich, jedenfalls wenn sie vom Menschen belebt werden. Die Gleisarbeiter stehen und hantieren weiter im Lärm und Dieselgestank, sie warten auf den Schichtwechsel. Ein Arbeiter der nächsten Schicht wartet gerade jetzt vor der Haustür darauf, dass sein Kind winkend um die Strassenecke verschwindet. Das Kind wartet weiter vorne auf das Auftauchen der Schulkameraden. Die Lehrerin öffnet die Schulzimmerfenster und wartet auf den Hauswart, der noch ein Verbindungskabel bringen sollte. Im Park vor dem Schulhaus sitzt ein alter Mann. In jungen Jahren hat er darauf gewartet, dass sich die Welt ändert. Ja, er war einst so jung, dass er glaubte, darauf warten zu können, wie sich die Welt zum Bessern ändert. Die Zeit schien auf seiner Seite. Die Herrscher waren alt und würden naturbedingt bald Platz machen. Der alte Mann hatte dann doch, gerade volljährig geworden, Mutter, Geschwister, Halbgeschwister und den Stiefvater mit seinen Wutausbrüchen zurückgelassen. Er war noch jung, er hätte warten können, doch er hatte gehandelt. Es war ein Wunder, dieses Leben ohne Angst vor Gewalt und Jähzorn, er war befreit von der Last der Wachsamkeit. Er war aus dem Vulkankrater geklettert und der Horizont hatte sich geöffnet. Der nun alte Mann sitzt auf der Parkbank neben dem Brunnen. Niemand weiss, worauf er wartet. Sein Hund schaut ihn an, stupst ihn mit der Schnauze.
Am Abend steige ich aus der S-Bahn. Urmel ist knapp hundert Meter weiter gekommen. Ich atme warme Dieselluft, die nächste Schicht ist an der Arbeit, der Lärm schiebt mich nach Hause.
Jürg Rechsteiner (Jahrgang 1956) ist Richter und Autor von Hörspielen, Gedichten und dem Roman «Halbland». Er lebt in St.Gallen.